Zeit zum Nachdenken
Pioniertaten der Luftfahrt sind nie Einzelleistungen, weil sie immer auf vorhandenes Wissen, auf Pläne und Versuche früherer Pioniere (Theoretiker oder Mutige) aufbauen. Es ist also nie falsch, auch andere, frühere Wegbereiter mitzuerwähnen – ebenso Zeitgenossen, mit denen eine gegenseitige ‚Befruchtung’ statt gefunden hat. Vermutlich hat auch die Mutter der Wrights, die ihnen die Butterbrote geschmiert und gut zugeredet hat, Anteil an ihren Erfolgen.
Gustav Weißkopfs Leistungen sind vielleicht ignoriert, verkannt oder verschmäht worden. Damit ist er aber wahrlich nicht allein. Bekannter ist Samuel P. Langley, dem der Ruhm des Erstfluges mit einem (später nachgewiesenermaßen) flugfähigen Katapultflugzeug durch schieres Pech versagt war. Und auch die Wrights selbst sind eine Zeit lang in Ohio wie auch in Europa für Scharlatane gehalten worden und konnten die Anerkennung ihrer Leistungen (wie auch einige ihrer patentrelevanten Erfindungen) erst gerichtlich durchsetzen.
Vor fünf Jahren wurde in den USA der fälschliche Slogan „100 Years of Flight“ ausgegeben, und das von offizieller Stelle. Auch wenn die Smithsonian Institution eine honorige Instanz ist, kann man das Prädikat „Der erste Motorflug“ durch die Wrights so nicht akzeptieren. Solche Formulierungen sind ungenau und tun allen früheren Pionieren, von den Gebrüdern Montgolfier über Henri Giffard bis hin zu Lilienthal und den Konkurrenten der Wrights, unrecht. Ich würde die Besonderheit der Wright’schen Pioniertat wie folgt formulieren:
Wir gedenken des ersten erfolgreichen nachgewiesenen bemannten Motorfluges der Welt mit einem Schwerer-als-Luft-Apparat durch die Gebrüder Wright am 17. Dezember 1903.
Aber insgesamt finde ich es in Ordnung, dass den Pionierleistungen der Gebrüder Wright überragende Bedeutung zugemessen wird und der 17. Dezember 1903 als größter Meilenstein der Luftfahrtgeschichte gilt. Die Brüder haben vier Jahre lang in Feld- (oder eher Dünen-)versuchen den Kastendrachen zu einem Motorflugzeug entwickelt und dabei eine sichere Steuerung des Flugzeugs um alle drei Achsen erfunden. Auch das war ein Meilenstein für sich, ein Kriterium, das vor und auch noch nach 1903 für viele tödliche Abstürze gesorgt hat.
Die Wrights hatten nicht nur „einen glücklichen Tag“, sondern sie haben ihren Doppeldecker zu einem langstrecken- und dauerflugtauglichen Gerät fortentwickelt. Sie haben insbesondere der europäischen Luftfahrt entscheidende Fortschritte ermöglicht und die erste Flugschule der Welt eröffnet. All dies steht in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung ihrer Modellreihe des ‚Wright Flyers’. Schon durch ihre Schlüsselstellung zu einem Zeitpunkt, an dem der Durchbruch der Schwerer-als-Luft-Motorfliegerei in der Welt erfolgte, haben sie gegenüber den anderen, durchaus beachtenswerten Zeitgenossen eine heraus ragende Rolle eingenommen.
Zwar ist es so, dass gerade heutzutage viele historische Luftfahrtleistungen von den USA selbstbewusst vereinnahmt werden, aber vor allem zwischen 1900 und 1911 war Frankreich das nicht minder selbstbewusste Mekka der Fliegerei, und die USA waren damals eher ein Exot. Auch wenn heute in den USA im Schatten der Wrights viele andere Pioniere, zumal ausländische, vergessen werden, schmälert das den geschichtlichen Platz der Gebrüder Wright nicht. Und ich denke, dass wenigstens wir die übrigen – zumeist europäischen – Pioniere nicht vergessen werden.
Ich hatte schon mal vorgeschlagen, eine Art Ruhmeshalle (nach Art der ‚Aviation Hall of Fame’) im FF zu etablieren... Schaden kann es jedenfalls nicht, auch den Vergessenen unter den Luftfahrtpionieren hier im Forum einen Faden zu widmen. Uns aber um den Bedeutungsrang einzelner Persönlichkeiten ebenso zu streiten wie sie es zu Lebzeiten selbst miteinander getan haben, muss nicht sein; wo sie doch alle an der gleichen großen Sache gearbeitet haben und als Konkurrenten gar oftmals voneinander gelernt haben. ;)
Gruß
Olaf