Auf der Internationalen Raumstation (ISS) wird es Anfang April eine krasse Wendung geben.
Und zwar in dem Moment, wenn das am 9. März gestartete erste europäische Weltraumfrachter (Automated Transfer Vehicle; ATV) „Jules Verne“ andockt. Dieses neue Kapitel der Geschichte der ISS kann die Liste der wichtigsten Teilnehmer am Projekt gehörig verändern, und Russland wird unter ihnen nicht zu finden sein.
Insgesamt ist Russlands Rolle in diesem Projekt klar in einen emotionellen und einen materiellen Teil gespalten. Die erste wird von der Öffentlichkeit ausschließlich mit Superlativen aufgefasst. Das hat seine guten Gründe. Der wichtigste Grund ist Russlands Pionierrolle bei der Entwicklung von Langzeit-Orbitalkomplexen. Außerdem verstehen alle, dass die russische Weltraumbehörde Roskosmos nach der Katastrophe der US-Raumfähre Columbia (Februar 2003) allein die Raumstation bemannt hielt.
Doch Emotionen sind unbeständig und gehen schnell vorbei. Was übrig bleibt, sind die konkreten Kennzahlen von Volumen, Kilowatt pro Stunde, Verbindungskanälen usw.
Und was die materielle Seite betrifft, ist Russlands Teilnahme am ISS-Programm, milde gesagt, weit vom Ideal entfernt und hat sogar eine Tendenz, weiter zu schrumpfen. Gegenwärtig besteht die internationale Station aus acht Modulen, doch allein drei von ihnen, „Sarja“ („Morgenröte“), „Swesda“ („Stern“) und „Pirs“ („Pier“), kommen aus Russland. Mehr noch: Der russische Teil der ISS ist nach Mitteilungen der Raketenkorporation Energija, die für das ISS-Projekt für die russische Seite zuständig ist, von einem grausamen Energiehunger geplagt, da die genannten drei Module nur fünf Kilowatt generieren. Doch für eine vollwertige Arbeit wäre mindestens zehnmal so viel angebracht.
Gleichzeitig sind die Aussichten auf einen erheblichen Anstieg der Energieversorgung im russischen Segment äußerst nebelhaft. Nach den existierenden Plänen will Russland erst 2014 und 2015 je ein Wissenschafts- und Energiemodul in den Weltraum bringen. Solange ist Roskosmos gezwungen, Strom bei den Amerikanern für 2000 US-Dollar pro Kilowatt einzukaufen oder muss Gegenrechnungen vereinbaren. Die Situation verschlechtert sich offensichtlich: Wie Energija-Chef Vitali Lopota zugibt, „wird das amerikanische Segment bis 2009 über 100 Kilowatt Strom verfügen, während wir bis 2011 die Erhaltung von nur sieben Kilowatt planen“.
Russland hatte lange in ISS-Fragen einen Supertrumpf: Es bot den amerikanischen und europäischen Partnern Transportdienste an. Wenn das ATV-Programm der Europäischen Weltraumbehörde ESA erfolgreich verläuft, wird das dem russischen Transportmonopol ein Ende setzen. Natürlich sind die Europäer momentan nur bei den Tests der Raumfrachter, doch es ist schwer, an ihrer Entschlossenheit, auch bemannte Flüge zu unternehmen, zu zweifeln.
In dieser Hinsicht ist die Reaktion der NASA auf die europäischen Erfolge symptomatisch. Die Washington Post brachte am 7. März einen Artikel, dessen Autor ohne einen Hauch von Verlegenheit die Perspektiven umreißt, nach der Auflösung der Space-Shuttle-Flotte bis 2010 auf russische Sojus-Raumschiffe angewiesen zu sein, die die US-Astronauten zur ISS bringen werden. Dabei macht NASA-Chef Michael Griffin keinen Hehl aus seinem Unmut über die Ausgaben, dank denen Russland im Zeitraum zwischen 2009 und 2013 circa zwei Milliarden Dollar verdienen kann.
Der amerikanische Senat wertet diese Situation als schlimmste von allen möglichen.
Es sieht so aus, als hätten die NASA-Vertreter bis zuletzt nicht an den europäischen Weltraum-Erfolg geglaubt. Jetzt, wo sie davon überzeugt sind, bereuen alle zusammen die lange Diskriminierung der ESA als ISS-Partner. Das europäische Modul Columbus hatte beispielsweise seit Mai 2006 auf Cape Canaveral untätig herumgelegen und wurde nur im vergangenen Februar vom Atlantis-Shuttle in den Weltraum gebracht.
Dass die ESA die Top-Positionen im ISS-Programm erreichen wolle, hat der Geschäftsführer des wichtigsten europäischen Weltraumkonzerns Arianespace, Jean-Yves Le Gall, der gleichen Zeitung gesagt. Er sagte, dass die EU im November ein Programm für bemannte Flüge verabschieden und somit zum vollwertigen Mitglied des ISS-Programms werden wolle.
Die Amerikaner erkennen die Weltraum-Bestrebungen der EU nur zu gut und können nicht umhin, über die Wahl eines lang- und mittelfristigen Partners für die Forschung im erdnahen Weltraum nachzudenken. Zumal die ESA ihre Bereitschaft, eng mit der NASA zusammenzuarbeiten, nicht zurückhält. Laut Le Gall kann die europäische Raumfahrt zum entscheidenden Element der amerikanisch-europäischen Vorherrschaft auf der ISS werden. „Gebt uns nur eine Chance“, schließt der Arianespace-Chef ab.
http://de.rian.ru/analysis/20080328/102465011.html