Erdo tut als Politiker genau das was er soll, nämlich die Interessen der türkei verteidigen. Trotz seiner Großmannsucht, Vetternwirtschaft und Korruption ist er für die Türkei ein historischer Führer. Durch geschicktes Lavieren hat er es geschafft, dass die Türkei mittlerweile eine wahrnehmbare geopolitische Rolle im Mittelmeer spielt, statt wie früher nur der Blockwall gegen den Nahen Osten zu sein und eine bessere US-Basis.
Das Problem ist nicht Erdo oder gar die Türkei, das Problem ist die EU- und unsere eigene Führung. Ebenso die ständige Doppelmoral des "freien" Wertewestens, der die Augen nur da auf hat wo man es ihm von der anderen Atlantikseite sagt und dort verschließt, wo es gegen die eigenen Interessen geht.
Ist Nordzypern anders als die Krim?
Die Anektion Nordzyperns ist mehrere Jahrzehnte her, wo ist da eine Sanktionspolitik wie sie z.B. gegen Russland praktiziert wird? Die Demarkationslinie wird auf EU-Kosten überwacht und dies ebenfalls seit Jahrzehnten. Ganze Gebiete sind der Agonie preisgegeben und die EU steht ausser mit der Geldbörse schulterzuckend daneben. Die lange Trennung hat dabei in keinster Weise die Grenzsicherheit Europas verbessert (die Türkei ist nicht EU-Mitglied, also Ausland und hier auch noch ein feindliches), die Kritikalität der Grenze und das Krisenpotential sind unverändert. Dazu müssten irgendwelche Offiziellen keine großen Analysen machen, sondern einfach mal hingehen - was ich selber geschafft habe, sollten die auch können. Man kommt da sehr schnell in unangenehmen Situationen und es hat auch schon Tote gegeben - wo sind die EU-Reaktionen? Wenn man sich einer der türkischen Militärbasen auf Nordzypern nähert - und es gibt einige davon, ich musste denen eher ausweichen als dass ich sie bewusst fand - merkt man schnell welche Stimmung vorherrscht. Ebenso wenn man sich den UN-Blauhelmen nähert: Man vermittelte mir ziemlich deutlich, dass die ihren Aufenthalt dort nicht als entspannten Urlaub auf EU-Kosten ansehen, sondern dass es ihnen klar ist, schnell in steigender Brisanz dabei zu sein. Das Ganze machte eher den Eindruck eines Waffenstillstands in einem Konfliktherd, als einer eingeschlafenen Überbleibsel-Situation. Dies kann jeder nachvollziehen, der sich eben nicht dem Touri-Grenzport in Leukosia, sondern mal den Grensposten ausserhalb nähert.
Ist Nordsyrien anders als der Donbass?
Die Destabilisierung Syriens und die Schritt-für-Schritt-Annektion des Syrischen Staatsgebiets wird im o.g. Artikel sehr gut und deutlich dargestellt:
Die Türkei schafft Tatsachen in Syrien. Hier wird detailliert dargestellt, wie man ein fremdes Staatsgebiet okkupiert, aber Reaktionen sind nicht sichtbar. Wo ist da das Völkerrecht, der Aufschrei der Gerechten und die Verteidigung von Werten? Syrien ist ein eigenständiger, international anerkannter Staat. Syrien hat eine offizielle Regierung, ob sie uns nun gefällt oder nicht. Syrien hat gemäß dem Völkerrecht Autonomie über sein Staatsgebiet und alles was dort passiert, unterliegt den internationalen Statuten entsprechend der Regierungskontrolle. Soweit das Recht. Die Realität schaut anders aus:
- Die offizielle Regierung wird urplötzlich als Diktatur definiert, obwohl sie seit Jahrzehnten als demokratisch gewählt galt
(war sie zwar nie, aber dass hat uns viele Jahre nicht gestört). Jetzt ist es also eine Diktatur. Dass die Hälfte der Bevölkerung religiös und politisch MIT der Regierung ist, spielt dabei keine Rolle. Ich habe selber Arbeiter und Techniker aus Syrien interviewt und auch in dieser kleinen Gruppe war keinesfalls Einigkeit über für oder gegen die Regierung: Die Pros lobten die Stabilität, die Kontras die fehlende Oppositionsfreiheit. Beide hatten Argumente.
- Die Russen, die auf Einladung der offiziellen Regierung dort sind, werden von uns als Böse gebrandmarkt, die dort ständig Kinder und Krankenhäuser bombardieren
(die militärische Sinnhaftigkeit sowas zu tun ist zwar nicht existent, aber es passt in das Böse-Bild). Die Engländer und Franzosen die dort bombardierten, sind dagegen Gut. Beide wurden nicht von der offiziellen Regierung eingeladen, beide verletzen fremden Luftraum, bombardieren ein fremdes autonomes Land und ergreifen Partei in einem inneren Konflikt, aber das ist alles ok, weil wir "Werte" verteidigen.
- Die US-Truppen halten weite Gebiete um die Ölquellen des Landes besetzt und plündern diese aus - natürlich nur, um dort die Demokratie zu verteidigen und erneut, unsere "Werte".
Solange sich Europa nicht wirklich auf sich konzentriert, nicht seine eigenen Werte verteidigt, nicht seine Interessen wahnimmt und die Pax-Americana-Doppelmoral anwendet, werden solche Situationen und politische Großwetterlagen nicht aufhören. Sie generieren sich als Folge der eigenen Unfähigkeit und des eigenen Unwillens, die sich darbietende Rolle des guten, schlichtenden Nachbars einzunehmen.
Die Türkei ist nichts weiter, als der Nachfolger Englands als fünfte Phalanx in der Seite der EU. Wie früher UK, mit seiner torpedierenden "No-Politik" zu allen großen europäischen Militärbemühungen, steht nun ein neuer dauerhafter Krisenherd an unserer Grenze, der uns ständig beschäftigt und damit schwächt. Die Türkei wird ihre Expansionspolitik nicht eindämmen, weil sie eben die dafür notwendige Unterstützung hat - sonst würde sie keinen eigenen Schritt tun. Nach dem versuchten Aufbegehren mit dem S400-Kauf und der entsprechenden wirtschaftlichen Zurechtweisung, sind die Zugehörigkeiten wieder deutlich geklärt. Erdo, bei uns immer als Clown dargestellt
(was er emotional sicher ist, aber eben nicht strategisch) hat gekonnt so Einiges erreicht:
- Er hat mit dem S400-Kauf eine Antwort auf den von US-Seite unterstützen Putsch gegeben, indem er klar machte, dass er bei einer Wiederholung das ganze Land zu einem Lagerwechsel bewegen kann - ein sehr hoher Preis um es nochmal zu versuchen und seine Befreiung von externem Einfluss
- Er hat mit Nordzypern eine vorgeschobene Basis um an Gas und Öl im Ost-Mittelmeer-Becken zu kommen und dort entsprechend zu agieren, ohne die ständige israelische Gefahr all zu sehr anwachsen zu lassen
- Er hat durch seine Schritt-für-Schritt-Okkupation Nordsyriens, die unter US-Freigabe und EU-Blindheit abläuft, die Kurdengefahr heruntergesetzt und wichtiges Grenzland unter eigener Kontrolle gebracht.
Wenn die EU also die Türkische Gefahr eindämmen will, muss sie sich dieser auch stellen:
- Klärung des Zypernkonflikts mit einem echten, sinnvollen Plan (der Anan-Plan war eine Farce und für die griechische Seite ein Selbstmord)
- Sanktionspolitik gegen die Türkei und robuste Verteidigung von UN-Mandaten und Embargos
- Definitiver und endgültiger Abbruch von Beitrittsgesprächen der Türkei in die EU
- Anerkennung der syrischen Regierung als solche, Annahme der Schlichterrolle mit dem Angebot zum Wiederaufbau unter der Bedingung freier Wahlen und klare Positionierung zur Autonomie Syriens
- Definition einer Europäischen Grenzpolitik mit Festlegung einer Europa-Wirtschaftszone und deutliche Verteidigung dieser im Mittelmeer
- Wiederaufbau von Wirtschafts- und Militärbeziehungen zu Russland, um durch die Mittel der Wirtschafts-, Technologie- und Marktöffnungshilfe Einfluss auf den Ukraine-Konflikt zu nehmen und so für Stabilität an den Europäischen Grenzen zu sorgen, die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu erhöhen und Wohlstand durch Handel mit den großen Gebieten im Osten zu fördern.
Dazu ist nichts anderes nötig, als endlich erwachsen und unabhängig zu werden, die andauernde Ost-Gefahr als spaltendes und zur andauernden Abhängigkeit führendes Märchen zu erkennen und die von der Geschichte dargebotene Rolle als Schlichter und Vermittler wahrzunehmen. Russland, die weiteren Gebiete im Osten sowie der Nahost-Bereich sind unsere direkten Nachbarn. Wir haben dort einen guten Ruf und keine direkten Gegner. Wir sollten dies endlich wahnehmen und uns als guter Nachbar zeigen, im ureigendsten Interesse. Damit kann mit relativer Leichtigkeit der destabilisierenden Rolle der Türkei sowie ihrer Expanionsbemühungen begegnet werden.