Hallo Arne,
fangen wir mit der letzen Frage an. Nein, die „Neuzählung“ der Opferzahlen findet weltweit statt. Allerdings aus verschiedenen Gründen. Im asiatischen Bereich, in dem China und Japan zusehends an militärischer Stärke gewinnen, werden diese Zahlen derzeit als politische Waffen eingesetzt, größere oder kleinere Zahlen sind also für die unterschiedlichen Seiten von politischem Wert. Diese Neubewertungen haben die bestehenden Aufstellungen und Datenmengen jetzt wirklich vorzüglich ausgewertet. Aber dann kommt immer der Wert X ins Spiel, der dann noch drauf geschlagen wird. Die erzkonservativen Kreise in Japan, die sehr, sehr einflussreich sind, belassen es bei den aktenkundigen, nachweisbaren Toten, Aufschläge für unbekannte Tote gibt es trotz aller Probleme nicht. China und Korea, aber auch Vietnam und Thailand, rechen immer noch was drauf, manchmal mehr als sein kann. Die Zahlen bzgl. japanischer Opfer waren eigntlich schon immer recht präzise, die Frage liegt hier mehr in der Einbeziehung der Spätfolgen bei den Atom-Bomben. In dieser Region herrscht also nunmehr eigentlich mehr Verunsicherung als vorher. Aber das liegt eben am Ziel dieser Neuzählungen.
In Europa, Australien und den USA gibt es keinen neuen Trend. Dort herrschte schon immer ein gewisser pedantischer Trieb, die Verlustzahlen bis auf die Stelle nach dem Komma festzulegen. Dies war aufgrund politischer Erwägungen nicht immer in voller Breite möglich, aber die Historiker verfolgen – anders als die Populisten, die derzeit kräftig mitrühren wollen – nur ihr professionelles Anliegen. Wenn es auch im angloamerikanischen Raum in letzter Zeit neue Zahlen gab, dann war es häufig nur die folgerichtige Neusummierung von Opferzahlen aus den über die Jahrzehnte minutiös recherchierten Regimentsgeschichten und ähnliches. Aber dramatische Änderung gab es dort eigentlich nicht. Einzig bei den Italienern gab es eine größere Änderung, aber nicht in den Gesamtzahlen, sondern in der zeitlichen Zuordnung. Offensichtlich hatte man Teile der eigenen Opfer der letzten Kriegsmonate an der Seite Deutschlands einfach ein wenig in die Zeit danach verschoben, um so die Bilanz als "Alliierter" ein wenig zu verbessern. Was dort aber auch stattgefunden hat, ist, dass zivile Opfer jetzt nicht mehr automatisch als SS-Opfer geführt werden, sondern man einräumt, dass auch alliierte Waffen mehr Tote unter der Zivilbevölkerung gefordert haben, als bislang angegeben.
In Russland darf derzeit wegen der angespannten innenpolitischen Lage nicht an den eigenen Opferzahlen gerüttelt werden, die Geschichtsforschung zum Großen Vaterländischen Krieg läuft hinter verschlossenen Türen oder liegt - wie bei der Forschung zu Stalingrad - weitgehend auf Eis.
Dann haben wir noch die Populisten, die besonders im europäischen und nordamerikanischen Raum Platz in den Medien beanspruchen. Deren Zahlen sind meist recht spektakulär, aber schlecht und sind in aller Regel nur Aufhänger oder Unterfutter für ihre eigentlichen Anliegen. Kann man getrost in die Tonne treten. Als Grund für ihre Abweichungen von den bisher akzeptierten Zahlen werden gerne irgendwelche Geheimunterlagen, die jetzt erstmals zugänglich sind, angegeben. In fast allen Fällen, waren diese Unterlagen auch schon zuvor den entsprechenden Kreisen bekannt gewesen, nur dass man die Quelle statistisch anders bewertet hat. Russische Luftbilder von Flüchtlingstrecks kann man so oder so auslegen, wie viele da nun drin waren, weiß keiner. Grundsätzlich sind diese Leute an sehr einseitigen Quellenauslegungen und Material-Zusammenstellungen zu erkennen, also immer nur das, was ihrer These nützlich ist. Dazu noch ein wenig „gesunder Menschenverstand“ und schon, haben wir die „Neuen Zahlen“.
Es gibt zu diesem ganzen Komplex eine im Selbstverlag (auf englisch) erschiene Doktorarbeit einer Statistikerin namens Luise Bardodos aus dem Jahr 2004. Ich habe mir leider nur das Vorwort kopiert - welches mir hier auch als Quelle gedient hat - da mir das Ganze nicht so furchtbar wichtig war.
Bei der historisch geprägten Neuzählung kommt im deutschen Raum derzeit den zivilen Opfern eine größere Bedeutung als bislang zu. Dies liegt vor allem daran, dass die Alliierten nach dem Krieg kein wirkliches Interesse an den Zahlen hatten, sondern mehr mit dem Wiederaufbau der Verwaltung befasst waren. In den meisten Fällen wurden die provisorischen deutschen Zahlen einfach übernommen, dann konnte man ihnen wenigstens keiner Manipulation zu eigenen Gunsten vorwerfen. Diese provisorischen Zahlen der deutschen Verwaltungen waren fast immer per Hand erstellt worden und bestenfalls per Hollerit-Maschine ausgewertet worden. Man zählt also jetzt – in zeitlich aufwändigeren und computer-technisch unterstützten Verfahren – die Datengrundlage der ersten Statistiken neu aus. Die alten Probleme bleiben dabei aber bestehen: Was damals falsch notiert wurde, bleibt falsch, was damals unbekannt war, bleibt unbekannt.
Allerdings hat sich im Umgang mit der Bewertung der Aufschläge für Unbekannte einiges getan. Man hat mehr Daten über Größe und Verteilung der Flüchtlings-Trecks eingearbeitet, Bevölkerungswerte aus der Nachkriegszeit einbezogen und so weiter. Aus Polen kamen viele neue Zahlen über die Zahl der dort verbliebenen, sei es, dass sie gar nicht geflohen sind, oder ihre Flucht nicht vollenden konnten. Die Zahlen der Vermissten haben sich oft nach dem Krieg reduziert, weil mehr Leute aufs Land geflohen waren, als geglaubt und so weiter. Für die ländlichen Landkreise waren diese Daten schon in den 60er Jahren neu bearbeitet worden, für die Großstädte ging es erst in den letzten 20 Jahren.
Warum es im Augenblick so viel hierzu publiziert wird, hängt aber nicht nur mit den wissenschaftlich-technischen Arbeitsvoraussetzungen zusammen, sondern auch mit den Medien. Viele der Studien sind erst durch die gestiegene Akzeptanz des Themas „Bombenopfer“ (meist aufgrund der eigenen Familiengeschichte bekannt, aber eben wenig publiziert) und den darauf aufbauenden öffentlichen Mediendruck entstanden, sonst wären dafür wohl einfach nicht die erforderlichen Forschungsgelder bereitgestellt worden. Dazu kommt das Interesse der Medien, die trockenen Zahlen mit menschlichen Gesichtern anschaulich zu machen. Noch gibt es Augenzeugen, die ihre Geschichte in einer mediengerechten Form erzählen können. Bald werden sie aussterben, dann wird die Zahl neuer Reportagen und Dokumentationen gegen Null gehen.
Ob es nun den großen Unterschied macht, ob 25 000 oder 35 000 Tote und ob diese Debatte in der Öffentlichkeit sinnvoll ist, wage ich mal zu bezweifeln. Geschichte ist keine Mathematik und unmittelbare Beweise für solche Diskussionen kann sie nur selten liefern, also endet es wieder im Gutachter-Streit. Und die Gewissheit, die viele wollten, gibt es wieder nicht, dafür haufenweise wilde Vermutungen, die dann der einen oder anderen Seite nützen. Die Richtigkeit ihrer Ideologien, für die solche Zahlen häufig als Beweise dienen sollen, könnte aber selbst die ultimative Wahrheit nicht bringen, da die Zahl der Getöteten überhaupt nichts über die Ursachen des Krieges und seiner Begründung aussagt.
Frohe Ostern und eine genau abzählbare Anzahl von Ostereiern!
