Ich bin mir da nicht so sicher. Meines Erachtens ist die zwangsweise Zusammenführung unterschiedlicher Ethnien (Völker) oder auch religiöser Gruppierungen (Katholiken - Protestanten, Christen - Muslime; Schiiten - Sunniten) eine der wesentlichen Ursachen für heutige Spannungen.
Da stimme ich 100% zu. Die gleiche Grundlage haben wir ja auch in Nahost mit dem Sykes-Picot-Abkommen, in Afrika usw. Im Endeffekt die Restteffekte des Kolonialismus, die bis heute nachwirken.
Andererseits, ist mit dem Neuziehen von Grenzen dieses Problem nicht gelöst, das funktioniert schon meistens aufgrund ökonomischer Strukturen nicht. Selbst wenn man in Nahost, in Afrika und wo sonst noch überall die alten, natürlich gewachsenen Grenzen wieder einführen würde, wäre das Ergebnis nicht
"Friede auf der Welt", sondern mit großer Wahrscheinlichkeit blankes Chaos. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich ökonomische, infrastrukturelle und Sicherheitsarchitekturen gebildet, die man nicht einfach umbiegen kann. Sie würden bei einer Grenzveränderung eher zusammenbrechen, was den Zusammenbruch der Ökonomien und anschließend der Staaten als Folge hätte. Das moderne Grenzziehen, von der Busch-Administration
"Nationbuilding" genannt, wird auch nicht mit dieser Intention praktiziert. Es ist ein Werkzeug zur Interessensdurchsetzung, die von uns hier so bezeichnete "Pandora-Büchse".
Nationbuilding als Werkzeug: Die Bezeichnung
"Pandora-Büchse" und wie sie gemeint ist, hat ja
D-HUBI gut dargestellt: Das Eingreifen in - wie auch immer - gewachsenen Strukturen. Es unterliegt damals in der Kolonialzeit wie heute Interessen, es wird nicht aus reiner Nächstenliebe praktiziert. Im Kosovo wie in Georgien, Lybien, Ukraine usw. wird eine Doktrin umgesetzt und nicht der
"Wille der Völker" beachtet. Die Doktrin ist beschrieben, veröffentlicht, stammt von dem Mann, der seit einigen Jahrzehnten die US-Aussenpolitik und damit auch die internationale Politik maßgeblich bestimmt hat wie kaum ein anderer und ebenso wie sein Vorgänger mittlerweile eine historische Figur ist. Wie Kissinger vor ihm, hat auch Brzezinski dank seiner Stellung innerhalb der US-Administrationen über mehrere Präsidenten Geschichte gelenkt und gemacht, das war ja schließlich auch sein Job. Zum Glück sind "Doktrin-Erdenker" Personen, die an ihre Ideen glauben und diese oft auch veröffentlichen. Hätte man Hitlers "Mein Kampf" gelesen, wäre vieles was danach kam nicht überraschend und schon früher abgefangen worden. Es macht also nicht nur Sinn, sondern ist zwingend gegeben, Veröffentlichungen solcher Amtsinhaber zu lesen und zu verstehen um Politik analysieren zu können. Da steht in frapierender Klarheit was man - und somit der Staat den man vertritt - will, welche Mittel man dafür einsetzen will und wie man davon profitieren möchte.
Das Kosovo ist ein Paradebeispiel dafür:
- Eingriff um die Interessen eines im Gebiet fremden Akteurs umzusetzen (Minderung des Russischen Einflusses auf dem Balkan)
- Schaffung eines künstlichen Gebildes, welches nach den ganzen Jahrzehnten eben nicht mehr durch eine klare ethnische Zusammengehörigkeit verbunden ist
- Bildung eines andauernden Unruheherds im Europäischen Konkurrenzgebiet welcher Ressourcen bindet und - entgegen dem was man in den Chartas schreibt ("...Wachstumsherd in der Mitte Europas...") - ein andauernder Destabilisierungsfaktor ist (politische Unruhen, fehlende Staatlichkeit in Form von Kontrolle und Gewaltausübungsmonopol, Rückzugsort für Banden und organisiertes Verbrechen).
Der Fall Georgien ist Kosovo mit umgedrehten Vorzeichen - kein Nationbuilding im engeren Sinne, aber gleicher Mechanismus:
- Eingriff um die Interessen eines im Gebiet fremden Akteurs umzusetzen (Minderung des Russischen Einflusses auf dem Südkaukasus)
- Bildung eins andauernden Unruheherds im Europäischen und Russischen Konkurrenzgebiet welcher Ressourcen bindet und ein andauernder Destabilisierungsfaktor ist (politische Unruhen, ständig köchelnder Krisenherd, Eingreifgrund je nach Bedarfslage).
Lybien als Failed State ist dagegen eher ein ökonomisches Einsatzziel als ein politisches gewesen, wobei diese Ziele ja fast immer zusammen gehen. Können wir aber anderweitig besprechen, da hier zu weit gehend.
Krim und Tschechoslowakei sind zwei große Ausnahmen. Die Krim weil der russische Anteil an der Lokalbevölkerung übermächtig war und so die mehrheitsbildende Meinung und damit die Geschicke lenkte, die Tschechoslowakei weil dort beide Ehtnien die Trennung wollten und beide diese in Einvernhemen und mit politisch-ökonomischen Bedacht durchführten. Somit auch die einzigen Fälle, die tatsächlich konform mit dem Völkerrecht sind.
Worauf ich hinaus will: Man sollte sich von vorgeschobenen romantischen und je nach Bedarf eingesetzten Blendern wie
"Wille der Völker" / "Demokratisierung von Unterdrückten" / "Beachtung der Menschenrechte" abwenden und die - hinterlegten und verbürgten - Hintergründe und Interessenlagen betrachten. Die genannten Begriffe sind gut und es wäre wünschenswert wenn sie tatsächlich der Antrieb für politisches Tun wären, aber dem ist leider nicht so. Politik oder Staaten also als
"gut" oder
"böse" zu bezeichnen, ist nur Ausdruck eines kindlichen Gemüts und leider weit verbreitet. Auch die immerfort auftauchenden
"Kalten Krieger" mit ihrer festgewachsenen Blau- oder Rot-Brille sind da wenig hilfreich und nicht weiter erwähnenswert, obwohl: Während eines Meetings im Geschäft, gab es die obligatorischen Kaffeepausen. Da auch ein Vertreter eines Deutschen Dienstes teilnahm, nutzte ich die Gelegenheit um ins Gespräch zu kommen. Er erwähnte, dass auch heute noch, der Anteil von verblendeten Ideenverteidigern sehr groß ist - dass diese bei jedem Dienst dieser Welt einheitlich als "Nützliche Idioten" geführt werden, sagt ja schon einiges aus. Politik wird nicht mit dem Herzen, sondern durch Interessen gemacht. Sie zu analysieren bedarf somit auch keiner Gefühle, sondern guter Augen um die Primär- und Sekundärquellen zu finden und zu lesen und eines wachen und
neutralen Verstandes, um die Zeichen der Umsetzung zu erkennen. Kein Geheimnis, sondern Ausbildungsgrundlagen für jedes Mitglied des Diplomatischen Corps