Steuerbarkeit Helikopter vs. Multikopter

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Multikopter sind ja bekannt als Spielzeug oder Modelldrohnen, haben einen elektrischen Antrieb und eine elektronische Lagestabilisierung. Helikopter gibt es in groß oder als Modell. Für Modellpiloten-Anfänger gibt es auch Steuerungssysteme mit Stabilisierung (elektronische Kreisel), ist dort aber weniger verbreitet und bei den großen Helikoptern m.W. völlig unüblich. Meine Frage nun: Warum eigentlich? Verhält sich eine Steuerung mit mehreren starren Rotoren grundsätzlich anders als bei einem beweglichen Rotor (Schlaggelenke/Taumelscheibe), und ist bei Multikoptern zwingend eine elektronische Stabilisierung erforderlich?

Meine erste Vermutung ist: Es liegt hauptsächlich an dem Verhältnis Ansprechzeit der Steuerung zu Reaktionszeit des Piloten. Der Schwebeflug ist tendenziell instabil und kann mit dem Balancieren eines Besens auf der Handfläche verglichen werden. Das ist mit etwas Übung kein Problem, solange man die Hand schneller bewegen kann, als der Besen umkippt. Ein Streichholz auf der Fingerspitze zu balancieren wäre dagegen praktisch unmöglich, weil es schneller umkippt als man kucken kann. Genauso müsste es sich bei großen und kleinen Flugkörpern verhalten. Letztere erfordern wegen der kleineren Trägheit, größeren Windempfindlichkeit usw. eine kürzere Reaktionszeit.

Erschwerend kommt dazu, dass bei Drohnen mit elektrischem Antrieb die Schubregelung über die Drehzahl erfolgt. Zum Ändern des Schubs müssen erstmal die Massenträgheiten des Motors und Rotors beschleunigt werden. Den Unterschied kennt jeder, der schonmal mit einem Passagierflugzeug mit Turboprop-Antrieb geflogen ist. Beim Start ist der Schub praktisch augenblicklich da, weil die Propeller schon auf Drehzahl sind und nur noch der Pitch verändert werden muss. Ein Jet braucht dagegen >10s bis die Turbinen von Leerlauf auf Startschub hochgedreht sind.

Was wäre jetzt aber, wenn man einen großen Multikopter bauen würde, sagen wir mal mit mindestens einem Meter Rotordurchmesser und -abstand, und diesen mit (Collective) Pitch steuern würde? Wäre dieser ohne elektronische Lageregelung beherrschbar? Mir fällt zumindest im Moment keine physikalische Gesetzmäßigkeit ein, die dem grundlegend widersprechen würde. Es gibt ja auch Tandem-Helikopter wie der Boing CH47 "Chinook". Bei diesem wird die Nick-Bewegung durch gegenläufige Ansteuerung des Collective-Pitch vorne und hinten kontrolliert. Das funktioniert nachweislich, und ich glaube nicht, dass es 1962 schon elektronische Lagestabilisierung gab. Und was in einer Achse funktioniert, muss auch in zweien gehen.

Wurde das schonmal probiert, einen Multikopter mit Pitch-Steuerung anstatt Drehzahlregelung zu bauen? Ich glaube, ich hab mal irgendwo ein Bild von einem bemannten "Quadrokopter"-Prototypen aus den 60er-Jahren gesehen, der mit einem zentralen Käfermotor und Keilriemenantrieb zu den 4 Rotoren ausgerüstet war. Ich weiss aber nicht, ob der jemals geflogen ist.
 
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Ich weiß nur, dass man in der bemannten Luftfahrt bei Multicopter (und vielmotorigen Flächenflugzeugen) mit elektrischem Antrieb von der sogenannten Distributed Power spricht. Es gibt viele Motoren und viele Energiequellen, die so komplex untereinander querverbunden sind um den Ausfall einer Energiequelle oder eines Motors ausgleichen zu können, dass das ein Mensch nicht in der erforderlichen Kürze der Zeit bewerkstelligen kann. Deshalb gehen die Zulassungsvorschriften von Fly-by-Wire-Steuerung und zugehörigen Operating Envelopes aus.
 
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Ok, klingt einleuchtend. Ich wollte ja aber eigentlich darauf hinaus, ob es möglich wäre, die Nachteile des elektrischen Antriebs durch einen zentralen Verbrennungsmotor und synchrone Kopplung aller Rotoren zu umgehen. Natürlich fallen mir gleich mehrere Gründe ein, warum es schwierig werden könnte, dafür eine Zulassung zu bekommen. Das muss einen ja aber nicht davon abhalten, die technische Machbarkeit zu diskutieren.

Übrigens habe ich den "bemannten Quadrokopter" wieder gefunden: Aerotechnik WGM21 (Bitte selber googeln, darf wegen <10 Beiträgen noch keinen Link posten:93:) Hab mich geirrt, war kein Käfermotor sondern ein BMW Boxermotor. Läuft aber fast auf's gleiche hinaus. Als angebliche Vorteile werden u.a. genannt: "Sofortige Steuerreaktion und hohe Steuerstabilität, Wegfall der sonst zur Steuerung erforderlichen zyklischen Rotorblattverstellung, Wegfall der komplizierten Steuerkinematik". Die Steuerung scheint also zumindest nicht das Problem gewesen zu sein.
 
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Bei einem elektrisch angetriebenen Quadrocopter sagt man, fällt einer der vier Rotoren aus, überschlägt er sich und stürzt ab (passiert mit den Kaufhausdrohnen, wenn sie von einem Vogel attackiert werden). Wie sieht das bei so einem mechanischen Quadrocopter aus, wenn ein Rotor ausfällt? Immerhin ist die Chance viermal höher als bei einem Hubschrauber mit nur einem Rotor.

Ansonsten wurde der Quadrocopter mit der gleichen Absicht erfunden, die den Kaufhausdrohnen ihren Siegeszug beschert haben: jeder kann das Teil fliegen, man muss es nicht erlernen.
 
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Ok, Kaufanreiz ist ein starkes Argument, eine elektronische Lagestabilisierung einzubauen. Wegen der Regelung der 4 Elektromotoren ist sowieso ein recht leistungsstarker Microprozessor vorhanden. Der Beschleunigungssensor kostet nicht viel zusätzlich. Leider kann man daraus nicht schließen, ob die Stabilisierung wirklich erforderlich ist, ob sich ein größerer Quadrokopter also auch ohne fliegen ließe.

Ich gebe Dir auch recht, dass es grundsätzlich besser ist, ein Fluggerät so einfach wie möglich zu bauen. Teile, die nicht vorhanden sind. können nicht ausfallen. Eine viermal höhere Ausfallwahrscheinlichkeit würde aber nur dann zutreffen, wenn die Rotoren exakt gleich gebaut und exakt gleich belastet würden. Ein Verstellpropeller ist im Vergleich zu einem Helikopter-Rotor viel einfacher aufgebaut, und wird wegen der fehlenden zyklischen Verstellung viel weniger dynamisch belastet.

Ein Rotor fällt auch in den allerwenigsten Fällen "von alleine" aus, also wegen Materialermüdung, Wartungs- oder Konstruktionsfehlern. Ich würde mal sagen, in der Unfallstatistik sind die Hauptursachen Kollisionen mit Felsen, Bäumen oder sonstigen Fremdkörpern, und da ist die Anzahl der Rotoren ohne Bedeutung. Mast bump kann nicht auftreten. Aber es gab mW. mal einen Absturz einer CH47 wegen Lagerschaden der Verbindungswelle der zwei Rotoren.

Die Getriebe sind wahrscheinlich der Knackpunkt, weshalb sich Multikopter in der kommerziellen Luftfahrt nie durchsetzen werden. In so ein Gerät mit Keilriemenantrieb würde ich mich sowieso nie reinsetzen. Keilriemen reißen, das hab ich beim Auto schon erlebt. Und selbst wenn man es redundant baut mit 3 oder 4 Riemen je Rotor, kann man nicht sicher sein, dass ein gerissener Riemen sich nicht so um die anderen wickelt, dass sie auch reißen. Man könnte es mit ordentlichen Getrieben und Kardanwellen wahrscheinlich schon irgendwie sicher genug kriegen, aber dann wird es trotzdem etwa doppelt so teuer wie ein Hauptrotor- plus Heckrotor-Getriebe und hat auch etwa den doppelten Wartungsaufwand.
 
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... Man könnte es mit ordentlichen Getrieben und Kardanwellen wahrscheinlich schon irgendwie sicher genug kriegen, aber dann wird es trotzdem etwa doppelt so teuer wie ein Hauptrotor- plus Heckrotor-Getriebe und hat auch etwa den doppelten Wartungsaufwand.
Als kurzes Intermezzo würde mich das Triebwerksausfallszenario einer V-22 Osprey interessieren. Und ich vermute, diese Aufgabe zu lösen war mit ein Grund für die überlange Entwicklungszeit.
 
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Die V-22 kann anscheinend nicht autorotieren, hat aber durch zwei Triebwerke und eine Verbindungswelle genügend Leistungsreserven für eine sicher Landung bei Ausfall eines Triebwerks. Das Geschwindigkeits/Höhendiagramm für die Avoid-Zones dürte aber ziemlich kompliziert sein, weil von der Rotoranstellung abhängig, und erst recht die durchzuführenden Flugmanöver im Ernstfall.

Ich hab auch was gelesen, dass der Vortex ring state bei der V-22 gefährlicher sein kann als bei einem Helikopter, weil der Wirbelring bei einem Rotor zuerst auftreten kann und beim anderen nicht, sodass die Maschine unkontrolliert abschmiert.

Insgesammt sehr interessant die Konstruktion, und militärisch hat das wohl auch seine Vorteile. Für Zivilen Einsatz aber sicherlich zu teuer und/oder zu unsicher.
 
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