Vergessen, verloren, verwirrt

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Lothringer

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Vier Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs kapitulierte die letzte deutsche Wehrmachts-Einheit: Elf Mann auf einer Insel in der Arktis
Von Ulli Kulke
Wir kennen sie, die Märchen von Unverbesserlichen, von Spinnern, die noch Jahrzehnte nach dem Krieg behaupteten: Der Führer lebt und bastelt mit letzten Wehrmachtssoldaten an Wunderwaffen für den Endsieg. Vorzugsweise am Nord- oder Südpol. Eben dort, wo man es nicht so schnell nachprüfen konnte. Ammenmärchen für den rechtsradikalen Nachwuchs.

Keine Wunderwaffen haben die Männer gebastelt und keine Gefechte mehr geführt. Doch tatsächlich lebte der letzte Trupp Wehrmachtssoldaten noch lange Monate nach Ende des "Dritten Reiches" fort, kapitulierte erst im September 1945. Am Nordpol - jedenfalls ganz in seiner Nähe. Auf einer Insel, die damals nur schwer zu erreichen war, die erst rund achtzig Jahre zuvor als weißer Fleck auf dem Globus getilgt worden war. Vergessen, verloren, verwirrt. Einzige Gegner: Eisbären und die grenzenlose Verlassenheit.

"Aber wir genossen ein starkes Gefühl von Freiheit in der unendlichen Weite dort oben", sagt Siegfried Czapka, einer der fünf Überlebenden, "nur hatten wir keine Ahnung, was aus uns würde."

Das Flair von Paris hatte der 18jährige Wetterfunker der Kriegsmarine im Jahre 1943 genießen dürfen, als an seinem Standort ein geheimes Fernschreiben eintraf: Gesucht wurden freiwillige Funker, die sich einen Aufenthalt in der Arktis vorstellen könnten. Czapka ließ sich von der sommerlichen Stimmung in der besetzten französischen Hauptstadt nicht verführen, er meldete sich. Erst ein Jahr zuvor war er, als Jugendlicher durchaus angetan vom deutschen Vormarsch, aus freien Stücken zur Marine gestoßen.

Es folgte das Trainingslager, im Winter 1943/44 auf der Goldhöhe im Riesengebirge, anschließend in den Alpen: fachgerechtes Iglu-Bauen, simulierte Eisbär- Attacken, Selbstbefreiung aus Gletscherspalten, Rundum-Abhärtung gegen Kälte. Niemand sagte den Männern, wohin es ginge. Nur zwei Informationen bekamen sie: Es würde sich um einen sehr langen Aufenthalt im Nirgendwo des Nordens handeln. Und ihre Angehörigen dürften während der gesamten Zeit keine Nachricht von ihnen erhalten - umgekehrt ebenso.

Ungeheuren Aufwand betrieb die deutsche Wehrmacht in jenen Jahren, um Wetterstationen im Nordwesten und im äußersten Norden von Atlantik und Polarmeer zu unterhalten. Stationiert auf Inseln und Schiffen. Ein ums andere Mal ausgehoben, zerbombt, versenkt - und ein ums andere Mal ersetzt auf der nächsten Insel, dem nächsten Breitengrad. Zu wichtig war das Wetter für die Einsätze zu Land, zu Wasser und in der Luft. Warnungen vor Nebelwänden konnten ganze Flugzeuggeschwader retten, umfangreiche Operationen von Torpedobooten im Januar 1942 an der englischen Westküste und im Bristolkanal waren andererseits nur möglich, gerade weil tagelanger Nebel angekündigt war. Luftangriffe auf alliierte Geleitzüge waren nur bei klarem Wetter denkbar, die berühmte Ardennenoffensive, der letzte große deutsche Vorstoß, lief dagegen nur, so lange die Panzer durch eine dichte Wolkendecke vor Bombern geschützt waren. Heer, Luftwaffe und Marine waren abhängig von Kundschaftern im Zentrum der Wetterküche, jenseits des Tageslichts, hinter der äußersten Kältefront, wo die Schlacht mit den Elementen bisweilen kaum weniger grausam war als im Schützengraben. Wo sie aus Baracken unter der Schnee- und Eisdecke verschlüsselte Funksignale, stundenlange Zahlenreihen, durch den Äther nach Hause schickten.

Siegfried Czapka und seine ähnlich jungen Kameraden ahnten nach und nach, was auf sie als Wetterfunker zukommen sollte, als sie schließlich in Wismar ablegten, nach Tromsö in Norwegen gelangten. Wo sie zu hören bekamen, daß ihr Voraus-U-Boot, die U-354, auf dem 74. Breitengrad, nahe der Bären-Insel, mit allen Mann und Vorräten in einer Geleitzugschlacht versenkt worden war. Und wo anschließend ihr Kommandant, der Geograph Wilhelm Dege, jeden einzelnen fragte, ob er lieber wieder an die Wetterstationen im warmen Mitteleuropa wollte. Alle elf Mann blieben und sammelten in Tromsö notdürftig Ersatzvorräte.

Es war Ende August, die lange Polarnacht nahte. Und sie war das Ziel der Operation "Haudegen": Die beiden Versorgungsschiffe, mit Baumaterial für die Wetterstation, den meteorologischen Geräten und den Vorräten, die ein ganzes Jahr reichen sollten, nahmen Kurs auf die unbewohnte Insel Nordostland hinter Spitzbergen. Rijpfjord hieß der neue Wohnort für die Truppe. Mit dem letzten Licht erfolgte der Bau von Station und Wohnhütte aus Preßspanplatten - ohne Isolierschichten. Vor dem ersten Packeis mußten die Schiffe wieder auf Kurs Tromsö gehen, und sobald die lange Nacht angebrochen war und der Fjord geschlossen, konnte gefunkt werden. Nicht früher, denn Dunkelheit und Packeis waren der Schutz vor Angriffen der Alliierten, sobald die erste zeitraubende Zahlenreihe durchgegeben wird, die den Standort verraten würde.

Dennoch legten Dege und seine Männer Minengürtel, schwangen weiße Tarnnetze über das Dach, die Meteorologen kümmerten sich um die Installation des Ballons und die dazu nötige Wasserstoff-Produktion. Wecken: 7.30 Uhr, Dienstschluß: 18.00 Uhr, 20.00 Uhr: Gemeinsamer Empfang der Nachrichten, Gesang, Vorlesen aus der umfangreichen Bücherei mit Standardwerken der deutschen Dichtung und vielen naturwissenschaftlichen Bänden, bisweilen Ausschank von Alkohol, Steinhäger oder Bols, 23.00 Uhr: "Ruhe im Schiff". Am 1. Dezember nahm die Station den Funkbetrieb auf. Der letzte Kriegswinter hatte begonnen, die letzte Nacht der arktischen Kriegsstationen. Irgendwann ein Hilferuf von einer anderen Wetterstation, auf einem Schiff - das letzte, was man von ihr hörte.

Eine eigentümliche Stimmung herrschte auf Station Haudegen. Fast alle waren sie eingeschworen auf den Sieg, bis zuletzt, sagt Czapka, alles andere wäre gelogen. Jugendliche Begeisterung von knapp 20jährigen eben. Allein der 35jährige Kommandant Dege, als Wissenschaftler eigentlich Zivilist, hat schon bei der Ausfahrt geahnt, daß der Krieg wohl kaum das Ende der Polarnacht überdauern kann. Und doch habe eine offene Atmosphäre geherrscht, mit Nachrichten oder Jazz aus dem Feindsender.

Dege bemüht sich, Lagerkoller und allzu harte politische Debatten zu umgehen, indem er, der Professor, regelrechten Schulunterricht veranstaltete: deutsche Literatur, Physik, Musik, Mathematik. Hitlers "Mein Kampf" wird rezitiert und anschließend kritisch diskutiert, die Freiheit nimmt man sich.

Die Funk-Nachrichten aus der Heimat werden immer düsterer. Als zwischendurch die Anfrage kommt, ob man womöglich noch einen zweiten Winter ohne weiteren Nachschub aushalten könne, gibt es keine Widerrede. Hier und da ein Rentier geschossen, und schon war der weite, offene Kühlschrank wieder voll. Und Steinhäger war noch genug da. Doch der wurde erst mal für einen anderen Anlaß benötigt.

Am 2. Mai erhält "Haudegen" die Nachricht, daß Hitler "gefallen" sei. Heinrich Ehrich, der Funker, zeigt Führertreue und äußert den Wunsch, die Hakenkreuzfahne auf Halbmast zu setzen. Er bekommt keinen Widerspruch - es bleibt das einzige Mal, daß das Nazisymbol über der Station wehte. Und dann ist er da, der 8. Mai, Kapitulation in Deutschland, weit, weit im Süden. Eine Flasche Steinhäger wird geöffnet. "Kein Sekt", weist Czapka jeden Eindruck von Jubelstimmung zurück. Die neue Situation will verdaut sein, und dafür ist Steinhäger eben passend.

Im Radio gibt es plötzlich nur noch Feindsender, und keinen der "Haudegen" stört es. Ein paar letzte Funksprüche wenden sich auch direkt an die Station, aus Tromsö, von der deutschen Besatzung dort, die nun unter alliierter Aufsicht weiter funkt. Man will wissen, ob man noch klar kommt, alles okay.

Und dann ist da Funkstille, über einen Monat lang. "Kriegsgewinner und -verlierer hatten andere Sorgen", erinnert sich der Wuppertaler Rolf Wieck, damals Funker in Tromsö, "in der Nord- und Ostsee mußten massenhaft Minen geräumt werden, es gab kaum intakte Häfen oder Flughäfen."

Dege führte ein zusätzliches Unterrichtsfach im Lager ein: Demokratie. Die Diskussionen wurden lebhafter, offener. Allein die Beklemmungen nahmen zu. Niemand wußte, wie es den Angehörigen gehen würde: Gefangenschaft, Tod, ausgebombt, verstümmelt? Doch es gibt keine Aussicht auf Heimkehr - vorerst. Die ersten Gedanken an eigenmächtigen Aufbruch brechen sich Bahn. Es gibt ein Boot, bis nach Spitzbergen und der dortigen Siedlung könnte man sich durchschlagen. Und überhaupt: Sei das nicht sowieso besser als Gefangenschaft? Flucht? Die Eisbären werden immer lästiger, bisweilen muß einer erschossen werden, einer versucht, in die Kombüse einzudringen. Und immer noch sendet Haudegen die Wetterdaten in den Äther - wer auch immer dafür Verwendung hatte. Seit dem 8. Mai unverschlüsselt.

Erst im August dann heißt es wieder: Hallo Haudegen, bitte melden. Die Abholung wird angeordnet. Mit dem ausdrücklichen Hinweis: "Die Mannschaft muß gegenüber dem norwegischen Schiffskapitän kapitulieren."

Am Abend des 3. September naht ein Robbenfängerschiff vom Horizont, ankert draußen im Fjord. Die Begrüßung ist herzlich. Schiffs- und Stationsbesatzung laden sich gegenseitig zum Essen ein. Und erst am nächsten Morgen, fast ist man schon zur Abfahrt bereit, erinnert sich der Kapitän: "Sie müssen jetzt kapitulieren." Wilhelm Dege übergibt seine Pistole Käpt'n Ludwig Alberts. Die letzte deutsche Wehrmachtseinheit hat sich ergeben, geht in Gefangenschaft, nur kurz.

1985 suchte Wilhelm Deges Sohn Eckart die Station auf und fand das Tagebuch, das sein Vater dort vergraben hatte. In weiser Voraussicht: Die Alliierten hatten während seiner Gefangenschaft alle Aufzeichnungen beschlagnahmt.

Quelle: http://morgenpost.berlin1.de/content/2005/03/20/biz/742298.html
 
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Ja Lothringer, wie machst du das eigentlich :?!
Ich meine alles lesen ?

Aber das ist mal eine sehr interessante Geschichte weit ab von den damaligen Geschehen.
Sehr interessant und wieder was neues erfahren.
Da sieht man mal ein Häuflein "verlorener am Ende der Welt hatte einen großen Einfluss auf das Kriegsgesehen.
 
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