Moin!
Wenn einem ein Thema wichtig ist, dann kauft er sich Bücher von namhaften Autoren. Nichts geht über ein gutes Buch mit Quellenhinweise, die man sich, wenn man wirklich interessiert ist, auch noch besorgen kann, Dank Fernausleihe, oder guter Bibliotheken, wenn man in der richtigen Stadt wohnt.
Guter Rat! :-)
Der volle Titel des Buches, aus dem das Eric-Brown-Zitat im Me-262-Artikel in der Wikipedia stammt, lautet: "Air Combat Manoeuvres - The Technique and History of Air Fighting for Flight Simulation" ... das ist ein Buch über Videospiele! :-)
Nicht gegen Videospiele - ich bin selbst auch ein Fan von Flugsimulationen -, aber wenn die Zielgruppe "Videospieler" heißt, dann sollte man vielleicht nicht jedes Wort auf die Goldwaage der Flugphysik legen.
Was ich jetzt aber notgedrungen trotzdem tue:
1. Eric Brown erklärt, die Me 262 hätte von der Feuereröffnung bei 550 m Abstand bis zum Abbruch des Angriffs bei 200 m nur 2 s zur Verfügung. In einer typischen Bomber-Flughöhe von 6 km Höhe kann man mit einer Eigengeschwindigkeit des Bombers von 360 km/h oder 100 m/s rechnen. In 2 s muß die Me 262 also zusätzlich zum Rückstand von 350 m noch 200 m aufholen. Das entspricht einer wahren Geschwindigkeit von 275 m/s = 990 km/h, oder Mach 0,87. Zur Erinnerung: Die Machgrenze der Me 262 beträgt Mach 0,86, und oberhalb von Mach 0,83 ist ein Anvisieren nicht mehr zu denken. Ganz offensichtlich wird in dem Zitat die Situation also dramatisiert, indem unrealistische Extremwerte verwendet werden.
2. Eric Brown erklärt, man könne in zwei Sekunden nicht zielen, das würde vier Sekunden dauern, was mit Luftbremsen möglich gewesen wäre. Mal abgesehen davon, daß das auch die Arbeit der Bomber-Heckschützen in gleicher Weise erleichtert hätte, ist die Überlegung nur für den Fall korrekt, daß sich die Me 262 überraschend 550 m hinter dem Bomber aus dünner Luft materialisiert. Im wirklichen Leben muß der Düsenjäger natürlich über eine längere Strecke anfliegen und kann den Bomber schon auf eine größere Entfernung auffassen und anvisieren, so daß die zwei benötigten Extra-Sekunden auch zur Verfügung zu stehen.
3. Um zu einer realistische Einschätzung des Anflugs auf einen Bomberverband zu erhalten, greife ich auf ein Buch von namhaften Autoren zurück (Applaus für Alois! ;-), "Deutsche Düsenflugzeuge im Kampfeinsatz" von Ethell und Price. Im Anhang findet sich dort die Wiedergabe eines nach dem Krieg aufgrund von Verhörprotokollen erstellten Berichts mit dem Titel "Das Einsatzflugzeug Me 262", der eine Beschreibung des "Achterbahn"-Angriffsverfahrens enthält (wie es von den Alliierten genannt wurde).
Demnach wurde der Bomberverband aus einer Position 4500 m hinter und 2000 m höher als das Ziel angeflogen, indem zuerst etwa 1500 m hinter dem Verband auf eine Höhe 500 m tiefer als das Ziel gestürzt wurde und dann der Verband geradlinig mit 850 km/h angeflogen wurde. Feuereröffnung erfolgte mit den R4M-Raketen auf 650 m, dann wurden die Bordkanonen eingesetzt. Bei 150 m wurde der Angriff durch Hochziehen und flaches Wegsteigen abgebrochen.
Die 850 km/h Geschwindigkeit waren dadurch bestimmt, daß es die Me-262-Piloten vermeiden wollten, von den Begleitjägern abgefangen zu werden. Bei einer niedrigeren Geschwindigkeit wäre dem Bericht nach die Trefferwahrscheinlichkeit höher gewesen wäre - aber es war nicht der Mangel einer Luftbremse, der die Geschwindigkeit diktierte, sondern die gegnerischen Jagdflugzeuge. (Das paßt auch genau zum weiter oben mehrfach zitierten britischen Bericht zum Meteor III, der zur Verwendung von Luftbremsen beim Angriff vom Bombern feststellte: "Es ist jedoch davon auszugehen, daß der [mit der Verwendung von Luftbremsen verbundene] ernsthafte Verlust von Geschwindigkeit die angreifenden Flugzeuge in eine taktisch unvorteilhafte Situation bringt." (Auch für das Absetzen durch Wegsteigen wäre ein Aufgeben von Geschwindigkeit beim Angriff natürlich ungünstig.)
Wenn man die Angriffsparameter des amerikanischen Berichts überschlägig durchrechnet, stehen dem angreifenden Me-262-Piloten bei 850 km/h vom tiefsten Punkt der Angriffsbahn bis zum Abbrechen des Angriffs etwa 11 - 12 s zur Verfügung. An diesem Bahnpunkt sieht er den Bomberpulk direkt vor sich und etwa 10° höher, also in einer ausgezeichneten Ausgangssituation für das Anvisieren.
4. Eric Browns eigene Kampferfahrung in der Bekämpfung von viermotorigen Bombern zeigt, daß es auch für einen Piloten ohne große Kampferfahrung möglich ist, einen Abschuß bei hoher Annnäherungsgeschwindigkeit zu erzielen. Er selbst hat zwei Abschüsse durch Frontalangriffe auf Fw-200-Bomber erzielt, bei denen die beiden Flugzeuge mit überschlägig wohl etwa 200 m/s aufeinander zugeflogen sind ... also einer deutlich höheren Annäherungsgeschwindigkeit, als die einer Me 262, die eine B-17 von hinten angreift.
5. Um ehrlich zu sein ... ich habe vier Bücher von Eric Brown gelesen, und das Zitat in der Wikipedia klingt kein bißchen nach Brown. Er schreibt "very british", ein bißchen dramatisch, ein bißchen selbstironisch. Das Wikipedia-Zitat dagegen ... den Stil erkenne ich absolut nicht wieder.
Kostprobe aus "Wings of the Luftwaffe" (meine Übersetzung):
"Es stellte sich als weit schwieriger dar, mich in eine Position für einen Frontalangriff zu manövrieren, als ich mir vorgestellt hatte, und mein erster solcher Angriff war tatsächlich vor allem einer zufälligen Begegnung zu verdanken, nachdem ich meine Beute in einer Wolke verloren hatte. Einmal begonnen, ist ein Frontalangriff eine haarsträubende Angelegenheit, wenn du dich mit hoher Geschwindigkeit einem großen Flugzeug näherst, das Feuer in deine Richtung speit, während deine Augen am Fadenkreuz kleben."
Kurz gesagt, das ist wieder mal so ein Fall, wo die in der Wikipedia verewigte Darstellung fragwürdig aussieht und weder in sich stimmig ist noch mit der aus anderen Quellen übereinstimmt. Ein bißchen erschreckend, daß das die erste Anlaufstelle für Millionen von Menschen auf aller Welt ist ... OK, bei so einem Nischen-Thema vielleicht nicht ganz schlimm, aber trotzdem! ;-)
Tschüs!
Henning (HoHun)