Schwierige Übung in Demokratie
Am Sonntag regiert die Hoffnung: Die BürgerInnen der Islamischen Republik wählen ihr erstes Parlament
Der politische Prozess, der im Dezember 2001 auf dem Petersberg bei Bonn begann, steht nun vor dem Abschluss: Am 18. September wählt die Islamische Republik Afghanistan ihr erstes Parlament. So wenig das Parlamentswahlen nach westlichen demokratischen Vorstellungen sein werden, so wichtig sind sie für das Land, dessen Bürger und Bürgerinnen bei allen bestehenden Schwierigkeiten begierig nach Partizipation sind, wie schon die hohe Beteiligung an den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2004 gezeigt hat.
Damals hatten sie unter einer begrenzten Gruppe von wohlbekannten Kandidaten zu wählen – wobei der Übergangsregierungschef Hamid Karsai als Sieger hervorging –, diesmal jedoch wird die demokratische Übung etwas schwieriger. Beinahe 6000 Kandidaten stellen sich den Wählern, und sie treten individuell an, das heißt nicht als Vertreter von Listen. Als Karsai das entsprechende Wahlgesetz unterzeichnete, wurde er von der "Opposition", einem Parteienbündnis unter dem ehemaligen Erziehungsminister Yunus Qanuni, der Karsai bei den Präsidentenwahlen unterlegen ist, dafür heftig kritisiert.
In Wahrheit bieten beide Optionen große Risiken: Die Fragmentierung und Unübersichtlichkeit des Parlaments nach diesen Wahlen wird groß sein – und dieses Phänomen hat schon einmal, 1963 bis 1973, das Land politisch gelähmt. Es wird nicht leicht sein für die Regierung, im Parlament feste Partner zu finden. Zwar ist der Präsident im afghanischen System stark, aber das Parlament kann ihm über den Umweg über die Minister genügend Schwierigkeiten machen.
Wahrscheinlich wäre die Gefahr für das Land diesmal aber noch größer gewesen, hätte man Listen zugelassen. Noch haben sich in Afghanistan keine Parteien im klassischen Sinne herausgebildet, sagt Zia U. Nezam, Afghanistans Botschafter in Österreich, zum STANDARD. Damit umschreibt er die Befürchtung, dass die allermeisten Parteien wohl ethnisch und religiös definiert gewesen wären.
Man braucht nur einen Blick auf den Irak zu werfen, um zu verstehen, welch katastrophale Folgen das haben kann. Zwar ist die Situation in Afghanistan insofern anders, als die größte Gruppe, die Paschtunen, nicht die absolute Bevölkerungsmehrheit stellen. Aber ein im Vorhinein "ethnisiertes" Parlament wäre doch dabei herausgekommen.
Deshalb also kandidieren nur Einzelpersonen mit Einzellogos, die umso wichtiger sind, als die Analphabetenrate sehr hoch ist. Bei einer so hohen Zahl von Kandidaten war es nicht einfach, ein ansprechendes Logo zu ergattern.‑ Alles, was mit Licht und Feuer zu tun hat, kommt in Afghanistan besonders gut: ein vorislamisches, iranisches Erbe.
Zahlreiche Bewerber gestrichen
Von diesen Wahlen erwartet sich Botschafter Nezam eine weitere Stärkung der Zentralmacht. Er macht darauf aufmerksam, dass Personen, die an Milizen gebunden sind, nicht kandidieren dürfen. 43 Kandidaten wurden nach Beschwerden bei der Wahlkommission von den Wahllisten gestrichen: 22, weil sie ihre Regierungsposten nicht aufgeben wollten, 21 wegen Verbindungen zu bewaffneten Gruppen. Dass die altbekannten Warlords ihre Vertreter trotzdem im Parlament haben werden, darüber braucht man sich auch keine Illusionen zu machen.
Eine Stärkung der Zentralregierung wäre schon allein deshalb wichtig, um die Sicherheitssituation in den Griff zu bekommen. Die Situation im Südosten des Landes hat sich während des vergangenen Jahres kontinuierlich verschlechtert, Beobachter sprechen von tausenden Taliban- Kämpfern, die von Pakistan über die Grenzen einsickern. Der Krieg ist noch immer nicht vorbei. Für die USA war das laufende Jahr bereits das blutigste seit dem Ende der Taliban-Regierung vor vier Jahren: Die mehr als sechzig Toten machen jedoch angesichts der Verhältnisse im Irak nur wenige Schlagzeilen.
Taliban stören Wahlen
Die Taliban versuchen auch, den Urnengang zu stören: Wer mit den Wahlen zu tun hat, wird bedroht und attackiert, mindestens sechs Kandidaten und etliche Wahlhelfer und Sicherheitskräfte wurden ermordet. Auch Wähler und Wählerinnen wurden bei der Registrierung angegriffen und getötet. Besonders die Frauen sind den Taliban ein Dorn im Auge – und umso wichtiger ist ihre Teilnahme am politischen Prozess, betont Botschafter Nezam. Dass die Transformation der Gesellschaft lange dauern wird, bestreitet niemand. Aber die Kandidatinnen, darunter auch junge und wenige mutige mit nicht sehr fest sitzendem Kopftuch, sind unbeirrt. Ein Viertel der Plätze sowohl im Parlament als auch in den Provinzräten ist für sie reserviert.
Realismus ist trotzdem angebracht. Der UN-Sondergesandte für Afghanistan, Jean Arnault, warnte am Donnerstag vor dem Scheitern des politischen Prozesses: Viele Afghanen seien schlicht frustriert, weil sich ihre Lebensverhältnisse nicht verbessert hätten. Korruption und Fehlen von Transparenz und "good governance" nähren Sehnsüchte nach der "Sauberkeit" der Taliban.
Gleich über die Grenze nach Pakistan werden die Stammesbrüder in zwei Provinzen von religiösen Extremisten regiert, die diese Situation hervorragend für sich nützen können. Nicht nur die Waffen, auch die Ideologie kommt über die Grenze wieder zurück, zur wachsenden Unzufriedenheit von Karzai, der‑ davon spricht, dass man das Übel des Terrorismus an den geografischen Wurzeln angehen muss. Ein entnervter pakistanischer Präsident Pervez Musharraf hat dazu kürzlich angemerkt, man könne ja eine Grenzmauer zwischen den beiden Ländern bauen. (DER STANDARD, Print, 16.9.2005)
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