Luftpirat
Space Cadet
What if what?
Höher, weiter, schneller
Bereits 1955 hatte die USAF mehrere phantastisch anmutende Zukunftsprojekte gestartet, darunter das Waffensystem WS-107A, aus dem die ab 1963 in Dienst gegangene ‚Titan II’-Interkontinentalrakete hervor gegangen ist: eine Waffe, die entscheidend den Status Quo des Kalten Krieges geprägt hat. Auch andere futuristische Projekte wie das WS-110A eines Überschall-Interkontinentalbombers (z. B. Boeing 725-87, North American XB-70, Lockheed XB-71*) und das WS-125A eines atomgetriebenen Interkontinentalbombers (z. B. Convair NB-36H) wurden in dieser Zeit begonnen.
[*von dieser Bomberbezeichnung hat die spätere RS-71 und heutige SR-71 in ihrer frühen Projektphase für das WS-110A/L also ihre aufsteigende USAF-Typennummer geerbt]
Wenn das Konzept des Mach-3-Interkontinentalbombers aufgegangen wäre, so wären seit Ende der 1960er Jahre die B-70 ‚Valkyrie’ und die F-108 ‚Rapier’ in Diensten der USAF. Doch die technische Entwicklung verlief anders und die Einsatzrolle der B-70 ist seit nahezu 50 Jahren überholt! Denn so alt ist die Streichung der beiden Projekte: das Begleitjägerkonzept (Projekt LRI-X) und mit ihm die XF-108 wurde im September 1959 gestrichen, und das Bomberprojekt XB-70 folgte im Dezember 1959. Man hatte also bereits vor dem Abschuss der U-2 von Francis Gary Powers am 1. Mai 1960 erkannt, dass Interkontinentalraketen die in jeder Hinsicht bessere Angriffs- und Abschreckungswaffe darstellen als die hoch fliegenden, schnellen Langstreckenbomber.
Das strategische Konzept, mit immer größerer Höhe und Geschwindigkeit die gegnerische Flugabwehr zu überwinden, stößt beim technischen Wettlauf Hyperschallbomber versus Langstrecken-Flugabwehrrakete auf physikalische Leistungsgrenzen, die nur noch eine Rakete überwinden kann. Zu den aerodynamischen und Antriebsproblemen im Hyperschallflug hat unser Kollege Acanthurus bereits an anderer Stelle ein paar interessante Fakten aufgezeigt. Diese gelten auch für Überlegungen zu Projekten wie ‚Aurora’ und anderen spekulativen Nachfolgemustern der SR-71.
Von Höhenflügen auf den Boden der Tatsachen zurück
Die Einsatzrolle hoch fliegender strategischer Bomber ist bereits durch den U-2-Zwischenfall technisch konterkariert worden und ab ca. 1964 hatte die NATO ihre Bomberflotten komplett auf die Tiefflugrolle umgerüstet. Die Kennedy-Administration hatte die Fortführung des Bomberprojektes XB-70 im März 1961 nur noch zu Forschungszwecken (betreffend den Hochgeschwindigkeitsflug, seine aerodynamischen Phänomene und seine technische Beherrschung) mit zunächst nur einem Prototypen gestattet.
Die XB-70 ‚Valkyrie’ flog jedenfalls erst im September 1964, als ihre Bomberrolle militärstrategisch längst überholt war. Aber zumindest noch bis Ende 1962 versuchte die USAF, das XB-70-Projekt am Leben zu halten, und zwar als strategischen Aufklärer RS-70. Da die A-12 ‚Blackbird’ zu dieser Zeit bereits erfolgreich flog und auch eine gewisse RS-71 bereits in der Entwicklung war, standen die Chancen für die RS-70-Version der ‚Valkyrie’ relativ schlecht. Was aus ihr geworden ist, ist ja bekannt. Jedenfalls war es nicht die Kollision des zweiten Prototypen mit dem NASA-Starfighter ‚013’ von Joe Walker im Juni 1966, die das Ende der ‚Valkyrie’ besiegelt hat, wie man des öfteren liest.
Es erstaunt mich, dass man nach 1960 überhaupt noch Ressourcen und Hirnschmalz für Mach-3-Bomber-Studien verausgabt hat. Der Aufwand und die Risiken, ein bemanntes Flugzeug wie die SR-71 als Atombomber auf eine solche Mission zu schicken, standen 1976 ebenso gut wie heute in keinem Verhältnis zum Einsatz der alternativ vorhandenen Waffenträger: den atomaren Interkontinentalraketen (ICBM) und den U-Boot-gestützten Marschflugkörpern (SLCM).
Der Leiter der ‚Skunk Works’, Ben Rich, liest sich in seiner Stellungnahme für die ‚Supercruise Military Aircraft Design Conference’ im Februar 1976 allerdings so, als würde er der Air Force die Fähigkeiten einer kurzfristig auch als Bomber umrüstbaren SR-71 schmackhaft machen wollen, um sein Produkt für alle möglichen Einsatzszenarien zu bewerben. Aber es ist vorsichtiger Weise in der Studie auch nur die Rede von einer „Ergänzung zur B-1“, denn Überflüge über das raketenbewehrte Festland der Sowjetunion verboten sich mit der SR-71(Bx) aus dem gleichen Grund wie bei ihren Aufklärerschwestern.
Ein Anachronismus namens "SR-71(Bx)"
Was hat nun dieser Atombomber „SR-71(Bx)“ als kurzfristig realisierbares Projekt zwischen 1976 und 1982 zu bedeuten? Eine Erklärung für diesen Anachronismus könnte sein, dass die USAF 1976 eine Nachfolgewaffe der AGM-69 SRAM (Short-Range Attack Missile) ausgeschrieben hatte, die sog. ASALM (Advanced Strategic Air-Launched Missile). Die ASALM war als atomare Nachfolgerwaffe der SRAM mit höherer Geschwindigkeit (Mach 4,5) bei höherer Reichweite (480 km) geplant. Neben ihrer primären strategischen Luft-Boden-Rolle sollte sie auch in der Luft-Luft-Rolle gegen AWACS-Flugzeuge eingesetzt werden und so die Koordination der feindlichen Luftverteidigung unterbinden. Wahrscheinlich war es nur ein Gedankenspiel, der Vollständigkeit halber auch die SR-71 als einziges verfügbares Mach-3-Flugzeug neben der B-1/FB-111 (Mach 2) und B-52 (Mach 0,9) als strategischen Waffenträger in beiden Rollen zu untersuchen und somit sämtliche Angriffsprofile in Richtung Sowjetunion durchzukalkulieren.
Projekt "SR-71I" wie Interceptor
Das YF-12-Programm eines Mach-3-Abfangjägers wurde 1965 vorläufig und 1968 endgültig eingestellt, weil die Sowjetunion keine Mach-3-Bomber hatte, die einen solchen Abfangjäger notwendig machten, so dass die YF-12 als entbehrlich angesehen wurde. 1976 nun erneut einen Mach-3-Abfangjäger nach Art der YF-12 zu fordern, lässt sich noch am ehesten mit der zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnis über die Bedeutung sowjetischer Frühwarnflugzeuge für die Luftverteidigung der eurasischen Arktis und der Notwendigkeit ihrer Ausschaltung erklären, um eigene Angriffe mit Langstreckenbombern gegen die Sowjetunion durchführen zu können. Bekannt war die Tupolew Tu-126 ‚Moss’ der Öffentlichkeit im Westen seit 1968, und ihr anschließendes Erscheinen am Himmel erklärt womöglich die Studien einer „SR-71I“, die als Abfangjäger mit einem modernen Radar und internen Langstrecken-Luft-Luft-Raketen vom Typ ASALM als „Anti-SUAWACS“ gegen gegnerische Frühwarnflugzeuge wie die Tu-126 und die Beriew A-50 ‚Mainstay’ eingesetzt werden sollte.
Ob nun die ‚Lockheed Skunk Works’, Martin Marietta, die Strategen der USAF, des US-Kongresses oder eine andere Lobby Initiator dieser ‚Supercruise Military Aircraft Design Conference’ waren, lässt sich wohl erst nach Freigabe und Veröffentlichung der alten Geheimunterlagen sagen. Erstaunlich finde ich allemal die Freigabe dieser Leistungsdiagramme der SR-71, wodurch ja auch eine Menge indirekter Informationen preis gegeben werden. Im Nachbarfaden zur SR-71 wurde letztens noch spekuliert, ob es immer noch eine stille Einsatzreserve an Blackbirds gibt. Diese Frage hat sich durch die Deklassifizierung der o. g. Unterlagen wohl erübrigt.
@ Gortos: und nun nenn' uns doch mal Ross und Reiter von deinem Fachbuch.
Saluti ;)
Luftpirat
PS: All’ das, lieber hossbaker, kann dank solch großartiger Zeitgenossen wie Joe Baugher, Greg Goebel und Andreas Parsch eigentlich jeder von uns auch ohne eigene Fachliteratur zur Genüge im Internet nachlesen, und es hat nichts mit „Elite“ zu tun. Hier im Forum sind wir alle ziemlich gleich. Na ja, fast: ich habe ich mich jedenfalls nicht aufgeregt und dir darum keinen roten Punkt geschenkt.
Höher, weiter, schneller
Bereits 1955 hatte die USAF mehrere phantastisch anmutende Zukunftsprojekte gestartet, darunter das Waffensystem WS-107A, aus dem die ab 1963 in Dienst gegangene ‚Titan II’-Interkontinentalrakete hervor gegangen ist: eine Waffe, die entscheidend den Status Quo des Kalten Krieges geprägt hat. Auch andere futuristische Projekte wie das WS-110A eines Überschall-Interkontinentalbombers (z. B. Boeing 725-87, North American XB-70, Lockheed XB-71*) und das WS-125A eines atomgetriebenen Interkontinentalbombers (z. B. Convair NB-36H) wurden in dieser Zeit begonnen.
[*von dieser Bomberbezeichnung hat die spätere RS-71 und heutige SR-71 in ihrer frühen Projektphase für das WS-110A/L also ihre aufsteigende USAF-Typennummer geerbt]
Wenn das Konzept des Mach-3-Interkontinentalbombers aufgegangen wäre, so wären seit Ende der 1960er Jahre die B-70 ‚Valkyrie’ und die F-108 ‚Rapier’ in Diensten der USAF. Doch die technische Entwicklung verlief anders und die Einsatzrolle der B-70 ist seit nahezu 50 Jahren überholt! Denn so alt ist die Streichung der beiden Projekte: das Begleitjägerkonzept (Projekt LRI-X) und mit ihm die XF-108 wurde im September 1959 gestrichen, und das Bomberprojekt XB-70 folgte im Dezember 1959. Man hatte also bereits vor dem Abschuss der U-2 von Francis Gary Powers am 1. Mai 1960 erkannt, dass Interkontinentalraketen die in jeder Hinsicht bessere Angriffs- und Abschreckungswaffe darstellen als die hoch fliegenden, schnellen Langstreckenbomber.
Das strategische Konzept, mit immer größerer Höhe und Geschwindigkeit die gegnerische Flugabwehr zu überwinden, stößt beim technischen Wettlauf Hyperschallbomber versus Langstrecken-Flugabwehrrakete auf physikalische Leistungsgrenzen, die nur noch eine Rakete überwinden kann. Zu den aerodynamischen und Antriebsproblemen im Hyperschallflug hat unser Kollege Acanthurus bereits an anderer Stelle ein paar interessante Fakten aufgezeigt. Diese gelten auch für Überlegungen zu Projekten wie ‚Aurora’ und anderen spekulativen Nachfolgemustern der SR-71.
Von Höhenflügen auf den Boden der Tatsachen zurück
Die Einsatzrolle hoch fliegender strategischer Bomber ist bereits durch den U-2-Zwischenfall technisch konterkariert worden und ab ca. 1964 hatte die NATO ihre Bomberflotten komplett auf die Tiefflugrolle umgerüstet. Die Kennedy-Administration hatte die Fortführung des Bomberprojektes XB-70 im März 1961 nur noch zu Forschungszwecken (betreffend den Hochgeschwindigkeitsflug, seine aerodynamischen Phänomene und seine technische Beherrschung) mit zunächst nur einem Prototypen gestattet.
Die XB-70 ‚Valkyrie’ flog jedenfalls erst im September 1964, als ihre Bomberrolle militärstrategisch längst überholt war. Aber zumindest noch bis Ende 1962 versuchte die USAF, das XB-70-Projekt am Leben zu halten, und zwar als strategischen Aufklärer RS-70. Da die A-12 ‚Blackbird’ zu dieser Zeit bereits erfolgreich flog und auch eine gewisse RS-71 bereits in der Entwicklung war, standen die Chancen für die RS-70-Version der ‚Valkyrie’ relativ schlecht. Was aus ihr geworden ist, ist ja bekannt. Jedenfalls war es nicht die Kollision des zweiten Prototypen mit dem NASA-Starfighter ‚013’ von Joe Walker im Juni 1966, die das Ende der ‚Valkyrie’ besiegelt hat, wie man des öfteren liest.
Es erstaunt mich, dass man nach 1960 überhaupt noch Ressourcen und Hirnschmalz für Mach-3-Bomber-Studien verausgabt hat. Der Aufwand und die Risiken, ein bemanntes Flugzeug wie die SR-71 als Atombomber auf eine solche Mission zu schicken, standen 1976 ebenso gut wie heute in keinem Verhältnis zum Einsatz der alternativ vorhandenen Waffenträger: den atomaren Interkontinentalraketen (ICBM) und den U-Boot-gestützten Marschflugkörpern (SLCM).
Der Leiter der ‚Skunk Works’, Ben Rich, liest sich in seiner Stellungnahme für die ‚Supercruise Military Aircraft Design Conference’ im Februar 1976 allerdings so, als würde er der Air Force die Fähigkeiten einer kurzfristig auch als Bomber umrüstbaren SR-71 schmackhaft machen wollen, um sein Produkt für alle möglichen Einsatzszenarien zu bewerben. Aber es ist vorsichtiger Weise in der Studie auch nur die Rede von einer „Ergänzung zur B-1“, denn Überflüge über das raketenbewehrte Festland der Sowjetunion verboten sich mit der SR-71(Bx) aus dem gleichen Grund wie bei ihren Aufklärerschwestern.
Ein Anachronismus namens "SR-71(Bx)"
Was hat nun dieser Atombomber „SR-71(Bx)“ als kurzfristig realisierbares Projekt zwischen 1976 und 1982 zu bedeuten? Eine Erklärung für diesen Anachronismus könnte sein, dass die USAF 1976 eine Nachfolgewaffe der AGM-69 SRAM (Short-Range Attack Missile) ausgeschrieben hatte, die sog. ASALM (Advanced Strategic Air-Launched Missile). Die ASALM war als atomare Nachfolgerwaffe der SRAM mit höherer Geschwindigkeit (Mach 4,5) bei höherer Reichweite (480 km) geplant. Neben ihrer primären strategischen Luft-Boden-Rolle sollte sie auch in der Luft-Luft-Rolle gegen AWACS-Flugzeuge eingesetzt werden und so die Koordination der feindlichen Luftverteidigung unterbinden. Wahrscheinlich war es nur ein Gedankenspiel, der Vollständigkeit halber auch die SR-71 als einziges verfügbares Mach-3-Flugzeug neben der B-1/FB-111 (Mach 2) und B-52 (Mach 0,9) als strategischen Waffenträger in beiden Rollen zu untersuchen und somit sämtliche Angriffsprofile in Richtung Sowjetunion durchzukalkulieren.
Projekt "SR-71I" wie Interceptor
Das YF-12-Programm eines Mach-3-Abfangjägers wurde 1965 vorläufig und 1968 endgültig eingestellt, weil die Sowjetunion keine Mach-3-Bomber hatte, die einen solchen Abfangjäger notwendig machten, so dass die YF-12 als entbehrlich angesehen wurde. 1976 nun erneut einen Mach-3-Abfangjäger nach Art der YF-12 zu fordern, lässt sich noch am ehesten mit der zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnis über die Bedeutung sowjetischer Frühwarnflugzeuge für die Luftverteidigung der eurasischen Arktis und der Notwendigkeit ihrer Ausschaltung erklären, um eigene Angriffe mit Langstreckenbombern gegen die Sowjetunion durchführen zu können. Bekannt war die Tupolew Tu-126 ‚Moss’ der Öffentlichkeit im Westen seit 1968, und ihr anschließendes Erscheinen am Himmel erklärt womöglich die Studien einer „SR-71I“, die als Abfangjäger mit einem modernen Radar und internen Langstrecken-Luft-Luft-Raketen vom Typ ASALM als „Anti-SUAWACS“ gegen gegnerische Frühwarnflugzeuge wie die Tu-126 und die Beriew A-50 ‚Mainstay’ eingesetzt werden sollte.
Ob nun die ‚Lockheed Skunk Works’, Martin Marietta, die Strategen der USAF, des US-Kongresses oder eine andere Lobby Initiator dieser ‚Supercruise Military Aircraft Design Conference’ waren, lässt sich wohl erst nach Freigabe und Veröffentlichung der alten Geheimunterlagen sagen. Erstaunlich finde ich allemal die Freigabe dieser Leistungsdiagramme der SR-71, wodurch ja auch eine Menge indirekter Informationen preis gegeben werden. Im Nachbarfaden zur SR-71 wurde letztens noch spekuliert, ob es immer noch eine stille Einsatzreserve an Blackbirds gibt. Diese Frage hat sich durch die Deklassifizierung der o. g. Unterlagen wohl erübrigt.
@ Gortos: und nun nenn' uns doch mal Ross und Reiter von deinem Fachbuch.
Saluti ;)
Luftpirat
PS: All’ das, lieber hossbaker, kann dank solch großartiger Zeitgenossen wie Joe Baugher, Greg Goebel und Andreas Parsch eigentlich jeder von uns auch ohne eigene Fachliteratur zur Genüge im Internet nachlesen, und es hat nichts mit „Elite“ zu tun. Hier im Forum sind wir alle ziemlich gleich. Na ja, fast: ich habe ich mich jedenfalls nicht aufgeregt und dir darum keinen roten Punkt geschenkt.