Der Spion, der vom Himmel fiel
Der Grund, wie es den Sowjets gelingen konnte, Francis Gary Powers in seiner Lockheed U-2B (Article 360, Serial No. 56-6693) am 1. Mai 1960, dem Tag der Arbeit, abzuschießen, an dem sich doch eigentlich auch die PVO mal einen freien Tag gegönnt haben sollte, wird nach wie vor gern beim Frisör debattiert. Es wird u. a. vermutet, dass ein Triebwerksproblem Powers veranlasste, zu einem Neustartversuch auf eine niedrige Flughöhe zu sinken, wo es ihn dann erwischt hat. Oder eine Suchoj Su-9 hätte ihn versucht zu rammen und dabei mit dem eigenen Abgasstrahl ‚erledigt’.
Captain Powers berichtete aber, dass sein Autopilot 80 km vor Tscheljabinsk ausgefallen war, er die Mission jedoch fortsetzte. Allerdings erforderte die manuelle Steuerung in 70.000 Fuß Flughöhe viel Aufmerksamkeit, und so bemerkte er die Boden-Luft-Rakete, deren Splitterwolke und/oder Druckwelle sein rechtes Höhenleitwerk beschädigte, erst bei ihrer Explosion. Hierdurch verlor er die Kontrolle über sein Flugzeug, und sein Teildruckanzug blähte sich infolge einer Kabinendekompression auf. In 34.000 Fuß Höhe entschloss sich Powers zum Ausstieg. Da er den Lockheed-Schleudersitz aus verschiedenen Gründen nicht für sicher hielt, stieg er manuell aus dem Cockpit.
Hierbei gelang es ihm zwar, den Sicherheitsschalter des Selbstzerstörungsknopfes* zu öffnen, aber nicht den Auslöser selbst zu drücken, da er zu sehr damit beschäftigt war, sich rechtzeitig vollständig aus dem Cockpit zu befreien... was ihm dann auch gelang. In 15.000 Fuß Höhe öffnete sich sein Fallschirm automatisch und Powers landete unverletzt in einen umgepflügten Acker, wo er von Bauern umringt und kurz darauf verhaftet wurde.
Den Treffer erzielte eine von vierzehn SA-2-Raketen, die in Salven auf Powers’ Flugzeug abgeschossen wurden. Eine von ihnen traf einen Abfangjäger vom Typ MiG-19, eine weitere traf die U-2, nachdem Powers bereits ausgestiegen war. Chruschtschows Sohn präzisierte viele Jahre später, dass eine der drei ersten Raketen (die anderen beiden zündeten nicht) den Absturz verursachte. In Unkenntnis des Treffers wurden elf weitere Raketen hinterher geschossen, von denen eine dann eine MiG-19 erwischte.
Ob die im Rumpf des ausgestellten Wracks erkennbaren Schrappnellsplitter nun echt sind oder nicht: allein die Druckwelle einer nahen Sprengkopfexplosion hätte die U-2 zum Absturz bringen können. Ich persönlich zweifle nicht an der Darstellung von F. G. Powers und erachte die Cockpitdekompression als durch einen Gefechtskopfsplitter verursacht.
Das obige Foto in Beitrag # 314 zeigt übrigens
nicht die Powers-Maschine, sondern den Prototypen der U-2 (Article 341), der am 4. April 1957 mit dem Lockheed-Testpiloten Robert Sieker am Steuer im Südwesten der USA aus 70.000 Fuß Höhe abgestürzt ist. Die Zelle ist dabei offensichtlich integer geblieben, aber der Rumpf der Maschine ist anschließend weitgehend ausgebrannt.
Dieses Foto, das der Kreml der Weltöffentlichkeit Anfang Mai 1960 untergejubelt hat, zeigte auch nicht die Powers-U-2, wie der Lockheed-Chefdesigner Kelly Johnson anschließend vor der Presse erläuterte. Es sollte den USA vielmehr vortäuschen, dass die abgeschossene U-2 komplett zerstört wurde. Ihr Pilot wurde in den ersten Tagen nach dem Abschuss ebenfalls nicht erwähnt, um die Vermutung zu nähren, er sei umgekommen. Beides sollte die USA veranlassen, sich eine gute Geschichte zu dem Flugzeugabschuss über dem tiefsten Russland auszudenken.
Was dieser Schachzug bewirken sollte, hat die Geschichte gezeigt. Denn anschließend konnte Ministerpräsident Chruschtschow der Welt in einer Ausstellung des Wracks in Moskau sowie schließlich in einer Tirade vor dem UN- Sicherheitsrat den kapitalistisch-imperialistischen Klassenfeind einen Lügner schimpfen, der von Sauerstoffproblemen eines NASA-Forschungsflugzeugs faselte. Der größte politische Erfolg, den die Sowjetunion aus ihrer Präsentation des Zwischenfalles heraus holen konnte, war aber sicherlich die Einstellung der direkten Aufklärungsflüge der USA über den Warschauer-Pakt-Staaten.
Hier einige jüngere Bilder vom
im Moskau ausgestellten Wrack dieser berühmt-berüchtigten U-2.
*Dass die U-2-Einsätze über den sozialistischen Staaten lebensgefährlich waren, ist unbestritten; aber der CIA nun gezielte ‚Menschenopfer’ zu unterstellen, ist offenbar ein böswilliges Gerücht, das seine Wurzeln im Selbstzerstörungsmechanismus der U-2 hat. Diesen Mechanismus gab es tatsächlich, aber er ließ dem Piloten die Wahl, ob und wann er von ihm Gebrauch machte. Um etwaiger Gehirnwäsche und Folterung zu entgehen, hatten die CIA-Piloten Giftkapseln oder –pfeile dabei, mit denen sie sich selbst ein Ende setzen konnten, aber nicht mussten.
Der Selbstzerstörungsmechanismus am Flugzeug hatte vielmehr den Zweck der Zerstörung der fotografischen Ausrüstung, um die Technik als auch die Aufklärungsergebnisse vor dem Feind verborgen zu halten. Hierzu war hinter dem Pilotensitz (und zweckmäßigerweise direkt über dem sog. Q-Schacht, also dem Sensorenschacht) eine 2,5-Pfund-Sprengladung mit 70-Sekunden-Zeitzünder untergebracht. Es wurde verschiedentlich behauptet, die Zündung hätte ohne eine Verzögerung ausgelöst, aber der Timer wurde zur Beruhigung der Piloten vor jedem Einsatz überprüft.
Anbei ein offizielles Lockheed-Foto von F. G. Powers vor einer U-2 (mit der zivilen Tarnzulassung N800X) aus dem Jahre 1966, als er ziviler Testpilot der Lockheed Corporation war. Es gab auch
eine Reihe von PR-Fotos zusammen mit Kelly Johnson und der N803X. Die N-Zulassungsnummern waren ebenso fiktiv wie abwaschbar, und sie wurden den U-2 je nach Bedarf aufgemalt, wenn sie z. B. zur Überholung ins Lockheed-Werk kamen. Auch die Mitarbeiter der ‚Agentur’ verzichteten im Dienst auf CIA-Ärmelaufnäher und trugen statt dessen gerne Lockheed-Firmenoveralls.
IN MEMORIAM